20. Karate-Sommerlehrgang in Neustadt/Ostsee

Nicht zuletzt wegen der optimalen Freizeitbedingungen am Meer, die sich mit einem fünftägigen Lehrgang unter hochkarätiger Leitung verbinden lassen, kommen Jahr für Jahr Karateka aus allen Bundesländern nach Neustadt, um hier in einer großen Gemeinschaft zusammen mit vielen, teils sogar überregional bekannten DAN-Trägern zu üben, zu lernen, zu kämpfen und Spaß zu haben. Diesmal in einer unfassbaren Schönwetter-Woche, die sich punktgenau, kraftvoll, heiß und dynamisch wie ein himmlischer Ippon in die Lücke des durchgängig kühlen und regnerischen Sommers einpasste. Petrus trainierte an diesem Jubiläumslehrgang im Geiste mit und hielt seine Hand schützend über die neben der Gogenkrog-Halle zeltenden Kampfsportler. Der Motivationsschub solcher äußeren Bedingungen war aber gar nicht nötig. Denn vom mitgebrachten Idealismus abgesehen, garantierten die herausragenden Persönlichkeiten des sechsköpfigen Trainerteams an sich schon für gehobene Karatelaune in der immer voll besetzten Übungshalle.

Wir starteten am Vormittag des ersten Trainingstages mit Ralf Brachmann, der uns in bester Koshinkan-Manier mit einem sukzessiv gesteigerten Übungsaufbau in Schwung brachte, welcher in der Abwehr eines Doppel-Zuki-Angriffs zurück und 90° raus sowie Block und Konter eines anschließenden Mae-Mawashi-Geri endete. Wert zu merken, gerade für Kumite-Leute, seine Übung des angetäuschten Sidesteps mit entgegengesetzter Körperverlagerung und Gyaku –Zuki, auch sein Hinweis, dass Zurückweichen mit Sori-Ashi und Bewegungsumkehrung zum Gegenangriff zeitaufwändiger ist, als aus dem bloßen Heranziehen des vorderen Fußes zu kontern.

Am Nachmittag desselben Tages erlebten wir dann Rob Zwartjes, der mit seinem charmanten holländischen Akzent wieder äußerst unterhaltsam in Wort und Tat erklärte, wie Weiches über Hartes siegt. Wir lernten bei ihm, wie man den Weg der Stilisierung und Kraftanwendung verlassen und sich trotzdem effizient zur Wehr setzen kann, wurden detailiert in so elementare Dinge wie das Einnehmen einer entspannten Alles-ist-möglich-Haltung und die zweckmäßige Ausrichtung der Führungshand eingeführt. Rob Zwartjes Hauptanliegen ist aber die auf dieser Vorbereitung aufbauende Vermittlung des wellengleichen Zurückfließens etwa mit einem lockeren Handfeger, der direkt in eine runde Konterbewegung in den Gegner hinein überleitet.

Luca Valdesis Trainingseinheiten am Dienstag erfüllten wieder alle Erwartungen an einen amtierenden Kata-Weltmeister. Schon bei der Aufwärmgymnastik überraschte Luca mit hohen Anforderungen an Bewegungskontrolle und Koordination durch unorthodoxe Abwandlung von Bewegungsroutinen, um dann elementares Karate einmal in den Feinheiten aus einer anderen Perspektive erfahrbar zu machen, etwa die Stände an ihrer Metrik statt an der Gewichtsverteilung zu überprüfen Auch Luca Valdesis Verständnis der Kata Nijushiho war in den kleinen Abweichungen von den ausgetretenen Pfaden eine Herausforderung, ebenso wie die hier verlangte Achtsamkeit auf meist wenig beachtete Details, deren Sinnhaftigkeit sich einem mitunter erst bei ihrer Anwendung im Bunkai erschloss, wie z. B. das Hineinspüren in die richtige Schrittlänge oder das Vermeiden von Zeitverlust durch unverzögerten, explosiven Vorwärtstrieb.

Schleswig-Holsteins Landestrainer, Lehrgangsveranstalter Wolfgang Hagge, gab am Mittwoch-Vormittag eine temperamentvolle Kumite-Lehrstunde, die er mit einem Kihon in den für die Koshinkan-Form typischen Wendungen einleitete, in diesem Fall mit Wechsel zu je einer vorgegebenen Auswahl aus vier Heian-Kata. Hier war schnelle und dabei trotzdem korrekte Ausführung gefragt, nicht zuletzt auch Konzentration. So eingestimmt gingen wir zur Einführung in einige Prinzipien erfolgreichen Kumites über, die uns Wolfgang mit fast jugendfrischer Hüftgeschmeidigkeit und ansteckender Dynamik vermittelte. Es ging dabei neben Fintieren, Rhythmuswechsel und die Erarbeitung des richtigen Abstands auch noch um erfolgreiches Kontern durch Übernehmen des Angriffs. Eine Inspiration, unsere Fähigkeiten für kompromisslose Aktion aktiv/aktiv statt aktiv/passiv weiterzuentwickeln.

Nachmittags vermittelte der Kampfrichter-Referent des KVSH, Sven Ferner, den Pflichtteilnehmern für die DAN-Prüfung und den Kampfrichteraspiranten die Kenntnis der aktuellen Wettkampfordnung. Sein launig moderiertes Frage und Antwort-Spiel an der frischen Luft machte die trockene Materie des Regelwerks interessant und hielt in den anderthalb Stunden die allgemeine Aufmerksamkeit wach, zumal Sven bei korrektem Wissen obendrein mit dem Zuwurf süßer Belohnungen motivierte. Während sich die einen am Ende ihre geforderte Teilnahme abstempeln ließen, gingen die ernsthaft am Kampfrichtergeschehen interessierten in die Gogenkrog-Halle, um im anschließend veranstalteten Ostseepokal-Turnier von der Theorie in die Praxis zu wechseln.

Beim jüngsten Übungsleiter des Trainerteams, dem DKV-Erfolgsathleten Jonathan Horne, hatten nicht nur die Kinder in ihrer Einheit großen Spaß. Fast spielerisch führte Jonathan uns am Donnerstag durch eine trotzdem schweißtreibende Übungseinheit, in der es um grundlegende Beispiele effizienten Kumite-Trainings ging, und zwar hier einmal weniger auf Taktik ausgerichtet, als auf eine Karate gemäße Körperertüchtigung, auch im Sinne von Wendigkeit, Reaktion und Genauigkeit. Was bei diesem aktiven Kampfspezialisten so erstaunlich elegant und federleicht aussah, vollzogen manche an der Grenze ihrer gymnastischen und konditionellen Leistungsfähigkeit nach. Für mich ergab sich hier die Gelegenheit, nach Jahren einmal wieder mit einem alten Freund als Trainingspartner zusammen zu sein, wodurch in Verbindung mit der coolen Leitung die intensive Karate-Arbeit zum besonderen Vergnügen wurde.

Wie man im SV-Ernstfall aus der Klemme kommt, ohne unversehens vom Opfer zum Täter zu werden, weiß Karate-Pionier Albrecht Pflüger in seinen Trainingseinheiten überzeugend zu vermitteln. Und so nahm auch am Lehrgangs-Freitag wieder eine große Gruppe die Gelegenheit wahr, von seiner Fachkompetenz auf diesem Gebiet zu profitieren. Albrecht legt besonderen Wert auf die Beachtung des Prinzips, dass eine Abwehr falsch ist, wenn sie Krafteinsatz erfordert. Er beschränkte sich auf die kompakte Vermittlung einiger weniger Anwendungsbeispiele und wie diese situationsabhängig variiert werden können, empfahl jedoch, jede Möglichkeit der Deeskalation dem meist vermeidbaren Konflikt vorzuziehen. Wachsam bleiben, spüren, wann der Sicherheitsabstand übertreten wird, und reagieren, bevor man angefasst wird, ist das A und O der Selbstverteidigung. Bloßes Heben der Abwehrhände oder, falls man uns anfassen will, gegnerische Hände nach unten streifen und sich nach hinten zurückziehen, entschärft laut Pflüger 90 % der Situationen.

Bleibt zu hoffen, dass unter dem Eindruck der Olympischen Spiele und dem dolce far niente in den Schulsommerferien die Erinnerung an die wesentlichen Aspekte der einzelnen Trainingseinheiten nicht zu sehr verblasst.

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