Mehr Karate am Meer – 21. Sommer-Lehrgang in Neustadt an der Ostsee

Fast braucht man es nicht mehr zu erwähnen: Allen Lehrgangs-Teilnehmern wurde wieder ein Schönwetter- Karate-Urlaub geboten. Aber nicht nur wegen der auch sonst optimalen äußeren Bedingungen vor Ort kommen jedes Jahr mehr Karateka aus dem ganzen Bundesgebiet hierher, vor allem tragen die Lektionen der herausragenden Persönlichkeiten des sechsköpfigen Trainerteams dazu bei. Zwar sorgte die Ansage bei der Lehrgangseröffnung, dass Rob Zwartjes aus dringenden privaten Gründen ausfiele, und Jonathan Horne nicht rechtzeitig von den World Games in Cali, Kolumbien, zurück kommen könne, für kurze Momente der Enttäuschung. Doch die wichen schnell dem Verständnis, lösten im Fall von Jonny sogar anhaltenden Applaus aus, als zu erfahren war, dass er in Südamerika den Kumite-Sieg in seiner Gewichtsklasse (+84 kg) eingefahren hatte. Gespannt durfte man nun auf die kurzfristig für Jonathan eingesprungene Nationalkader-Erfolgsathletin Maria Weiß sein.

Die Lehrgangsleiter gaben mit der Eröffnung das Generalthema „Back to the roots“ aus und begründeten dies mit dem Video-Studium der letzten Karate-WM in Paris. Die dort gezeigten Darbietungen vermittelten ihnen den Eindruck, dass sich unser Sport inzwischen zu weit von seinen Ursprüngen entfernt habe. Folglich wollten sie hier die Zurückführung auf Karate-Techniken mit Kime und festem Stand einleiten, ungebräuchliche klassische Techniken wieder aufgreifen und üben, mit dem Ziel, auf eine Kampfkunst hinzuarbeiten, die als solche deutlich erkennbar ist.

In diesem Sinne lehrte Karate-Pionier Albrecht Pflüger in seinen Trainingseinheiten überzeugend, welche Selbstverteidigungs-Möglichkeiten dem Karateka in der Nahdistanz zur Verfügung stehen. Er beschränkte sich auf die kompakte Vermittlung einiger weniger Anwendungsbeispiele und wie diese situationsabhängig variiert werden können, empfahl jedoch, jede Möglichkeit der Deeskalation dem meist vermeidbaren Konflikt vorzuziehen. Vorab ging er im Zusammenhang mit der Übung einer entspannten Haltung und richtigen Atmung auf die Bedeutung des Hara und die Verbindung mit der Erde über die Füße ein, gab den Hinweis, dass zu dieser Thematik dem weitergehend Interessierten Tiefgründiges im Buch von Karlfried Graf Dürckheim „HARA – Die Erdmitte des Menschen“ gesagt wird. Auf Albrecht wartete im Verlauf dieses Lehrgangs noch eine Überraschung: Die Auszeichnung mit der goldenen Ehrennadel des DKV, die Falk Neumann als Vizepräsident des Verbandes hier vor großer Kulisse vornehmen konnte.

Ralf Brachmann hatte sich dem Lehrgangsmotto gerechte elementare Übungen aus der Halbdistanz ausgedacht, baute die saubere Ausführung von Kizami-Zuki, Gyaku-Zuki und Uraken am Partner zu elementaren Kombinatonen mit Ausweichbewegungen und Kontern aus, legte hierbei Wert auf technische Exaktheit, richtige Abstände und Beachtung der Schutzhand. Neben dem Tai-Sabaki ließ Ralf hier ausgiebig das Raussteppen aus der Kontaktzone nach Ausführung einer Technik üben, das wir zu einem reflexartigen Bewegungsmuster entwickeln sollten. Daran knüpfte Wolfgang Hagge in seinen Trainingseinheiten mit Übungen aus der Langdistanz an. Im Prinzip ging es um das gleiche wie bei Ralf, jedoch naturgemäß unter Einsatz von Fußtechniken. Bevor wir jedoch in Aktion traten, leitete Wolfgang zu einem Stretching an, das wir nach seiner Empfehlung an den Beginn einer jeden Übungseinheit setzen sollten, ebenso wie die Aufnahme seiner vorgeschlagenen Kräftigungsgymnastik für Bauch, Beine und Rücken zum Trainingsabschluss. Wolfgang strebt an, dass im Kumite wieder verstärkt vom Mae-Geri Gebrauch gemacht wird. Entsprechend begannen wir mit geraden Tritten des vorderen und hinteren Beines, das zweckmäßige Absetzen des Trittbeines zum Standbein und zurücksteppen, Ausführung mit korrektem Hüfteinsatz aus einer gespiegelten oder seitengleichen Stellung heraus. Das mündete im Antäuschen eines Mae-Geris, unmittelbar gefolgt von Mawashi-Geri oder Ura-Mawashi-Geri und endete schließlich in der hohen Schule des Fintierens, Rhythmuswechsels und die Erarbeitung des richtigen Abstands. Natürlich ging es dabei auch um erfolgreiches Kontern durch Übernehmen des Angriffs, hierbei die Fähigkeit für kompromisslose Aktionen aktiv/aktiv statt aktiv/passiv weiterzuentwickeln.

Wie schon in den Vorjahren vermittelte Luca Valdesi zu Beginn seiner Einheiten wieder Basiswissen, diesmal speziell zu den Ständen. So kann etwa der Gyaku-Zuki im Stand zum Testen der richtigen Schrittlänge dienen, die nicht stimmt, wenn der folgende Oi-Zuki im Stand zu Fehlern in der Körperhaltung oder Beinstellung zwingt. Wegen der Kniegesundheit wichtig zu merken, die Neko-Ashi-Dachi Stellung aus Vorschieben des freien Fußes genau in Fortsetzung des Musubi-Dachi Winkels einzunehmen. Für Valdesi ist die Fußarbeit essentiell. Neu für die meisten Teilnehmer seiner Einheiten, dass man beim Stellungswechsel die Füße auf dem Ballen, statt auf der Ferse drehen soll. Beim Studium des Ablaufes der Kata Heian-Yondan und Unsu gab es dann Gelegenheit an solchen Feinheiten zu arbeiten. Interessant für das Verständnis von Kata die Aussage, dass Geschwindigkeit und Kraft einer Technik in der Addition immer gleich sind, z. B. das allmähliche Hineinspannen ins Kime in langsamen Passagen dem Kraftaufwand in schnellen Passagen entspricht. Machten wir hier auch einige ungewöhnliche Erfahrungen, so können wir doch darauf vertrauen, dass sie einer weltmeisterlichen Quelle entspringen.

Für alle, die noch nie bei Maria Weiß trainiert hatten, waren ihre Übungseinheiten eine überraschende Bereicherung des Lehrgangs. Frisch und munter gab sie uns mit einer Reihe abwechslungsreicher Reaktionsübungen Anregungen mit und stellte anhand vieler Übungsbeispiele einen ganz persönlichen Bezug zu ihrer aktuellen Kumite-Praxis im Nationalkader her. Unter anderem machte Maria uns auch mit der Theorie der 3 Kampftypen bekannt, die ein spanischer Trainer aus der Analyse von 50 Stunden Video-Material einer Europameisterschaft gewonnen hatte. Von dem Nutzen dieser Theorie aus eigener Erfahrung überzeugt, ließ sie uns die Rollen des aggressiven, emotionalen Kämpfers, des abwartenden Kontertyps und des nüchtern kalkulierenden Strategen durchspielen, nicht ohne das Täuschungsmittel der Verstellung zu berücksichtigen, etwa den Aggressiven zu mimen, wenn man ein defensives Naturell hat. Ausschlaggebend ist das durchschauen des jeweiligen Typs, mit dem man es zu tun hat, ohne sich selbst zu verraten. So kann der technisch schwächere, vielleicht einen Tick langsamere Athlet bei konsequenter Anwendung seiner Taktik trotzdem den Sieg davontragen. Freilich ist es ratsam, nicht zu sehr auf einen dementsprechenden Plan A fixiert zu sein. Sollte der nicht funktionieren, muss man flexibel sein und einen Plan B oder sogar C parat haben. Marias überzeugende Demonstrationen und ihre Lockerheit hinterließen einen nachhaltigen Eindruck.

Wir dürfen uns schon auf den 22. Karate Sommerlehrgang in Neustadt/Holstein freuen, den uns die Lehrgangsleitung für die Zeit vom 10. bis 16. August 2014 ankündigte.

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